was wir sehen - und was wir fürchten

Masken. Die Dinge sind, was sie sind: Schutzmaske. Atemmaske. Atemschutzmaske. Chirurgischer Mund-Nasen-Schutz. Beatmungsmaske. Sauerstoffmaske. Medizinischer Mundschutz. OP-Maske.
 

Die Bilder. Wir denken an Skalpelle und geöffnete Körper. An Fremde, verhüllt ins klinische Weiß und Grün der Intensivmedizin; an ihre guten, doch gesichtslosen Geister, ernsthaft gebeugt über ausgesetzte Körper. Kontrollverlust. Wir denken an Krankheit und Verletzung. Wir erinnern uns ans Hoffen und Heilen.

Masken. Die Dinger sind, was sie sind: Schutzmaske. Atemmaske. Atemschutzmaske. Mund-Nasen-Schutz. Partikelfiltrierende Halbmaske. FFP, Filtering Face Piece 1/2/3.
 

Die Bilder. Virale Erreger, bunt, fast schrill, lavalampenhaft, im Nanoskop-Großformat. Wir denken an China, Taiwan, Vietnam, und Toronto. Kontrollverlust 2003? Ach SARS, noch schön weit weg. Wir denken an Reise-verbot, Shutdown, Abwehr, Stigmatisierung. Krankheit als Pandemie heißt Schmerz und Verlust aller Art. Wir erinnern uns ans Hoffen auf den richtigen Schutz.
 

Im Westen nix Neues. Und Ost und Süd und Nord. Heute, wie vor über 11.000 Jahren: als existentielles Unheil sich mit dem Menschen anlegte, mit Einzelnen oder der gesamten Gemeinschaft. Als die Kräfte der Natur sich gegen uns wandten, und Krankheit, das Werk unsichtbarer, übernatürlicher Wesen, uns quälte. Ein ums andere Mal an die eigene Ausgesetztheit und Verletzlichkeit erinnert, fühlte der Mensch sich klein. 

was wir können

Doch wären er und sie und es nicht Mensch, verletzlich ja – und hoch robust –, dächten sie und es und er an ein bloßes Sich-Ergeben. Wenn die menschliche Kraft versagt, muss eine andere ran. Ein Mensch muß sich verwandeln! Medizinfrauen und -männer, Heilende, Schamanende, Hexende und Zaubernde griffen zur Maske. Durch die innerlich durchlebte Verkörperung gewisser Daseinsformen sahen wir uns mit höheren Mächten auf Augenhöhe - hinter dem bedeutsamen Gesichtsschmuck öffnete sich das Tor zu einer zweiten Wirklichkeit, einem zweiten Leben voller Kraft: das Menschlein nun ein Geist, ein Dämon, zuweilen eine Gottheit. Die Toten erwachten. Als Jenseitsreisende wuchsen uns Flügel. Der magische Schutz ruhte in der Maske. Manch eine gewann im Laufe ihrer Nutzung an Stärke und sah unzählige Gesichter.  
 

Damals, wie heute, reichte das Anliegen über die medizinische Fürsorge hinaus. Das Schicksal von Einzelnen war das Schicksal der Gemeinschaft, und so verhielt es sich auch mit der Heilung. Es ging, und es geht, um Grenzsituationen. Um existentielle Momente menschlichen Lebens. Um viele Gefühle - und die Gefühle vieler. Um ihre Berücksichtigung und ihren Ausdruck.
 

wer wir sind

Zuweilen verhüllten wir das Gesicht, als Sitz des erkennbaren Teils des Ich, so weit, bis in diesem Ich wieder genug Platz für die Anderen war: sich ungeachtet aller Einzelheiten als Einheit begreifend. Erinnern wir uns an die kultischen Feste zu Ehren eines ungezähmten griechischen Gottes, aus dessen Staub wir Menschen erstanden. Wir wissen, rauschend soll es dort zugegangen sein: Dionysos war im Spiel! 

Doch nichts mit sinnlosem Delirium und lasterhaftem Leerlauf – vielmehr im rituellen Kollektiv, das heißt im kultivierten Rausch der Gefühle, in deren gegenseitiger Verwobenheit die Gemeinschaft sich im wahrsten Sinne des Wortes erlebte: Masken, die die Einzelnen verbargen, vollendeten die gemeinschaftlich herauf-beschworene Ekstase. Schon lange wussten unsere Ururalten von überall: Ich, also Wir, enden nicht an unserer Haut. Die Grundstruktur von Gefühlen ist eine ekstatische – unsere eigenen Gefühle sind nicht so privat, wie wir denken. Immer schon sind sie geprägt und gebildet durch und im Mit-Fühlen mit den Anderen. Ihr Hinausgespanntsein ist für dieses Mit- konstitutiv, wie schicksalhaft für alle Einzelnen.

 

Das ist Affektivität ganz ursprünglich, ekstasis, ekstare: Außersichgeraten als erweitertes Ich. Es ist ein Ich, das ganz entschieden über sich hinaus weist - nicht ins Leere, nicht in solipsistischer Gefangenschaft, nicht in eine lebensfeindliche Verrohung. Gar Askese! Beim Dionysos, nein. Es reicht über sich hinaus und hinein in mit-menschliche, also menschliche Verbundenheit. Jetzt sage wer, das sei nicht vernünftig.
 

was wir schöpfen

Der würde auch nicht sagen, Kunst habe was mit Vernunft zu schaffen. Vorweg: wen immer solch wirre Gedanken quälen . . . nicht bei Trost. Unser Beileid. Statt mathematischer Beruhigungsgesten nimmt Kunst allerhand Gefühle in ihren Auftrag. Die Grundstruktur von Kunst ist: ekstatisch. Ihr Hinaus-Stehen ins Intimste, Verletzlichste, Geheimste, ins Schwächste und Abgründigste und Zerstörerischste, wie ins Schöpfende, Werdende, Verändernde, ins Kraftvolle und Verspielte ... gleichsam ins Erhabene menschlicher Gefühle ist ihr Geschäft; so oder so.

 

Und dabei lügt sie, sobald sie den Mund aufmacht. Denn so sind ihre Mittel schon immer beschaffen, dem Unsichtbaren ein Fetzchen Sichtbarkeit abzuringen; dem Sichtbaren etwas, das wir sonst nicht sähen. Wenn sie Lebendiges schöpft und erschafft, scheint es nur so. Sonst wär sie ja Gott weiß wer.

 

Da sei doch nichts nützlich dran, sagen jene, die ihr eben schon jede Vernunft absprachen.

 

Sie wissen nicht, wie etwas von Menschenhand Beseeltes sich selbst schon reicht -  wenn es bloß existiert. Als sei dieses Bloß das eines Bedauerns, und nicht jenes der unbedingten Notwendigkeit, schlicht da zu sein. Ungeachtet aller Umstände, Tag und Nacht.

 

Hierin empfindet Kunst eine biologische Geste nach, eine existentielle. Im schönen Schein von etwas Echtem zu leben, ermöglicht zuweilen erst das Leben. Überleben!, jubelte Nietzsches engagiertes Chamäleon: Der Schein von Kunst, der künstlerische Schein, ist Verhüllung und Lichthauch zu gleichen Teilen. Während in der Wirklichkeit nicht für alle Platz ist – in ihrem Scheinen finden sie Orte. Das ist sehr vernünftig.

Und: Kunst hat ihr eigenes Werkzeug. Es ist unendlich. Jüngst hat sie etwas dazugewonnen, Schutzmasken. Natürlich ungewollt. Das ist gut. Denn Ungewollt-und-trotzdem-da ist ein Spezialgebiet von Kunst. Sie muss, wenn sie will . . . ihr verhüllendes wie entblößendes Moment nun auf ein grob-stoffliches Objekt richten, das uns in nächster Zeit unverhofft verhüllt, und manche(s) offenbart. Ein schönes Spiel! 

Masken. Eine Maske ist eine Maske ist eine Maske ist: MNS, lediglich Mund- und Nasenschutz?

 

Die Bilder. Möglicherweise wird unsere Maske 2020 nicht nur steriler Fetzen gewesen sein, der uns befremdete. Vielleicht assoziieren wir dann mit dem Begriffsfeld der Schutzmaske, abseits ressentiment-geladener Beklemmung, auch jene Bilder eines gemeinschaftlich gestalteten Ereignisses: Mit Masken, die uns nicht gerade lähmten, sondern bewegten?

 

 Es geht um den Schutz durch eine Verhüllung, durch die Einheit der Vielen erwirkt für Einzelne, die wir (wenn nicht gerade auf dionysischem Selbstfindungstrip) im Alltag oft und zu Recht sind. Es geht um unsere Sicht-barkeit trotz verhüllter Gesichter - Sichtbarkeit und Verbundenheit vermöge einer Verhüllung: um die Bejahung unseres Lebens, die wir künftig nicht nur ausdrucksstarken Masken angesehen haben werden. Auch unseren Gesichtern.  

Als solche erzählt die Schutzmaske die Geschichte einzelner Menschen als Versammlung zur unverwüstlichen Einheit: Im großen Trotz und robust gegen ein unsichtbares Mischwesen, mit dem hübschen wie hochmütigen Namen Corona. Wer möchte da nicht gleich den Fasching ausrufen, Commedia dell’Arte, mesopotamische Maskenbälle usw., die Verhältnisse zu verkehren?

 

So wird sie zur kleinen, mehrfarbigen Fahne einer wesensspezifischen Universalkonstante: der Verletzlichkeit beseelter Kreaturen, zu denen wir uns (trotz allem und vielleicht Gott sei Dank) doch immer wieder zählen dürfen; ungeachtet aller Besonderheiten und Normalitäten, und wie es alles heißt, was wir meinen zu sehen und entscheiden zu unterscheiden.


Wir erinnern uns: Masken besitzen eine gewisse Kraft. Wenn Menschen sich welche vorbinden, ist etwas im Gange. Es betrifft nie nur Einzelne. Gefühle, Menschen, und Masken  können sich zur Abwechslung mal wieder etwas Gutes tun. Und: Gefühle sind ekstatisch - wir berühren einander schon, ohne einander zu berühren. Das geht sich doch ganz gut aus mit Kontaktsperre und beschränktem Ausgang. Must be the reason why I’m king of my castle . . .

 

Masken. Die Dinger sind, was sie sind? Das kommt ganz darauf an, wer Sie sind und in diesen Zeiten noch so alles werden wollen. 

Die Bilder. Sind real gestaltbar: Kunstreiche Schöpfung war und ist unser wundervoller Schutz.

 

Gwenni Lalongue  (lebt und schreibt versehentlich)